Schreibtischchaos gleich Arbeitschaot?
Wie Ordnung oder Unordnung am Schreibtisch die Arbeit selbst beeinflusst, was Experten sagen und Studien ergeben.
Es gibt da dieses Bild von Albert Einsteins Arbeitsplatz. Aufgenommen an seinem Todestag, den 15. April 1955, zeigt es den Schreibtisch des Vaters der Relativitätstheorie – beziehungsweise eher das Chaos, in dessen Zentrum der theoretische Physiker seinen Forschungen nachging. Einsteins Bürostuhl markiert den Mittelpunkt verschiedener konzentrischer Kreise aus Papierstapeln, loser Blattsammlungen, Bücherhäufen und Kladden. Die Regale im Hintergrund wirken notdürftig und hastig eingeräumt – eher einer momentanen Ablage als einer dauerhaften Ordnung gleich. Auf einer Schiefertafel hinter seinem Schreibtisch-Sessel finden sich in weißer Kreideschrift notierte Formeln und Gedanken. Ein genialer Geist braucht eben ein kreatives Chaos, um zu funktionieren, lautet eine verbreitete Annahme. Die Studie einer Psychologin von der University Of Minnesota würde diese These stützen. Nun sehen diverse Chefs das leider oft gänzlich anders und verstehen den Zustand eines Schreibtisches gern als Visitenkarte eines Mitarbeiters. Ihre These, notorische Arbeitsplatz-Chaoten seien unorganisiert, schlampig und generell eher charakterschwach, wird ebenfalls durch Studien gestützt. Eine Annäherung an die Wahrheit, irgendwo in der Mitte.
Die eine Theorie: Kreativität entspringt dem Chaos
Beispiele für die Annahme, dass kreative Geister auch über ein, sagen wir, kreatives Arbeitsumfeld verfügen, gibt es viele. Eine Aufnahme, die Apple-Mastermind Steve Jobs zum Beispiel an seinem heimischen Arbeitsplatz zeigt, weist verblüffende Ähnlichkeit mit Einsteins Schreibtisch auf – abgesehen von einem riesigen iMac vor, anstatt einer Tafel hinter ihm. Sogar die Bücher-Regale an der rückwärtigen Wand sind nach dem Einsteinschen Ablage-Vorbild „sortiert“. Der US-amerikanische „Daily Show“-Mastermind, der Komiker, Schauspieler, Schriftsteller und Regisseur Jon Stewart, mag’s offenbar wild und kunterbunt: Ein Notebook in der Mitte, ein Festrechner links von ihm und verschiedene Utensilien wie Bonbon-Glas, Bauhelm, Seifenspender und Getränkedose lagern auf wild getürmten Papierstapeln. Auch bei Karl Lagerfeld sieht’s bunt aus – dabei allerdings sehr strukturiert. Meterhoch stapeln sich bunte Stoffproben, akribisch unterteilt in gleich hohe Stapel in einem klar strukturierten Regal.
Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele: John Lennon zum Beispiel brauchte für seine Arbeit offenbar nicht mehr, als die Ecke eines Tisches – auf der sich ein Block, ein Stift und ein Glas Wein befanden. Der Gitarrenkoffer im Hintergrund fügt sich mit einer Stehlampe, einem Stuhl und einem Verstärker zu einem insgesamt ruhigen Gesamtbild, das man als Vorlage für ein Stilleben nehmen könnte – während seine Frau Yoko Ono wiederum dem Künstler-Klischee getreu eine ganze Tisch-Seite mit Notizblöcken, Büchern und Zetteln füllt.
Glaubt man der Studie einer Professorin von der University Of Minnesota, sind nicht nur die Arbeitsplätze von Menschen so unterschiedlich wie ihre Besitzer selbst. Kathleen Vohs wollte beweisen, dass wildes Durcheinander sogar den Geist befeuert. Die Psychologin bat eine Gruppe Probanden zu einem Experiment und trug ihnen auf, Verwendungszwecke für Tischtennisbälle außerhalb des Sports zu finden. Die eine Hälfte der Test-Teilnehmer schickte sie in ein blitzblank geordnetes Büro, die andere in ein ziemlich unordentliches. Das Ergebnis war eindeutig: Während beide Gruppen in etwa gleich viele Vorschläge zustande brachten, waren die der Mannschaft aus dem Chaos-Büro um einiges origineller. Durch dieses und weitere Experimente gelangte die Wissenschaftlerin zu der Erkenntnis, dass ein ordentliches Umfeld eher zu einem traditionellen, ein unordentliches Umfeld eher zu einem unkonventionellen beziehungsweise weniger herkömmlichen Arbeits-Output führt.
Der Grund dafür ist offenbar ein psychologisches Phänomen: Menschen streben grundsätzlich nach Ordnung. Fehlt die Zeit, Ordnung zu schaffen, weil andere Aufgaben vorgehen oder ist die Unordnung schlichtweg zu groß, schaltet das Gehirn um und sucht nach dem kürzesten Lösungsweg. Kurz: Auch die Gedanken gehen kurze Wege – lassen sich aber vom chaotischen Umfeld dazu inspirieren, ungewöhnliche Wege zu wählen.
Die andere Theorie: Unordentlichkeit hemmt die Produktivität
Kathleen Vohs Studien ergaben allerdings auch eine andere Erkenntnis. Mit weiteren Studien fand sie heraus, dass unordentliche Arbeiter geiziger sind als ordentliche und sich oft auch ungesünder ernähren als ihre ordnungsliebenden Kollegen. Das spielt natürlich wieder denjenigen in die Karten, die immer schon vermutet haben, dass ein unordentliches Arbeitsumfeld nur das Symptom einer Charakterschwäche von vielen ist. Vor allem in Vorgesetzten-Kreisen hält sich diese Faustregel beständig, oft gefolgt von Feststellungen wie: „…und im Übrigen verbringt ein unordentlicher Mensch mehr Zeit mit Suchen als mit Arbeiten“. Auch da scheint Wahres dran zu sein, wie eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung zeigt.
Dessen Untersuchungen förderten zutage, dass Chaos am Arbeitsplatz tatsächlich jede Menge Arbeitszeit kostet. Die offizielle Begründung dürfte keinen überraschen: An unordentlichen Schreibtischen wird mehr Zeit für Suchen, fehlende oder überflüssige Arbeitsmaterialien fällig als an aufgeräumten. Übrigens gilt das auch für ein chaotisches Dateiablagesystem auf dem Computer. Bemerkenswert ist allerdings die Summe der so vergeudeten Arbeitszeit: Circa 70 Arbeitstage im Jahr gehen fürs Suchen an unaufgeräumten Schreibtischen im Durchschnitt drauf – das Institut errechnet daraus 10 Prozent der Gesamtarbeitszeit.
Das mittendrin? Schwer in Ordnung!
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Selbstverständlich ist nicht jeder Kollege, der auf einem unaufgeräumten Berg loser Blätter und abertausenden Post-its sitzt, ein Kreativ-Genie – und auf der anderen Seite kann auch am aufgeräumtesten Arbeitsplatz eine überaus unmotivierter und ineffizient arbeitender Mensch sitzen. Klar ist aber auch: Man kann alles übertreiben. Ist die Unordnung so groß, dass sie den Arbeitsfluss hemmt, muss auch der eingefleischteste Schreibtisch-Chaot aufräumen. Und auf der anderen Seite sollte der Ordnungsfanatiker nicht mehr Zeit auf die Schreibtisch-Ordnung verwenden als der Arbeit selbst. Optimal, da sind sich die Experten einig, ist eine regelmäßig anberaumte, konzertierte Hauruck-Aktion, die sowohl Schreibtisch als auch Geist freimacht.